Presseinformation 42/2024

Richtige Diagnose, falsche Medizin: cep hält Draghis Ansatz für zu dirigistisch

Berlin/Freiburg/Paris/Rom. Zu wenig Innovation, zu hohe Energiepreise, zu viele Qualifikationsdefizite: Mario Draghi hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Vorschläge zur mangelnden Wettbewerbsfähigkeit der EU unterbreitet. Sein Bericht fokussiert sich auf strategisch wichtige Sektoren wie Energie und Verteidigung sowie eine koordinierte Industriestrategie. Das Centrum für Europäische Politik (cep) teilt die Diagnose eines sehr kritischen Zustands der europäischen Wirtschaft, hält die Medizin aber für falsch.

„Das Ziel, europäische Champions im globalen Systemwettbewerb zu kreieren, darf den Binnenmarkt nicht einer opportunistischen Industriepolitik opfern. Die EU muss vielmehr deutlich bessere Wachstumsbedingungen für die industrielle Transformation auf breiter Basis schaffen“, sagt cep-Vorstand Henning Vöpel.

Die nachlassende Wettbewerbsfähigkeit der EU habe ein bedrohliches und für viele Unternehmen und Industrien bereits existenzielles Ausmaß angenommen. Die Deindustrialisierung sei von einem schleichenden zu einem sich beschleunigenden Prozess übergegangen.

Die EU-Regulierung der vergangenen Jahre hat nach Ansicht des cep zwar ethische, soziale und umweltpolitische Maßstäbe gesetzt, aber vernachlässigt, dass europäische Unternehmen an Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit immer mehr verloren haben. „Die EU-Regulierung bremst Wachstum und Innovation mitten in der industriellen Transformation und hat so die Produktivitäts- und Einkommensentwicklung im Trend verlangsamt“, betont Vöpel. Das BIP pro Kopf der EU liege mittlerweile 20.000 Dollar unter dem der USA. Die EU drohe in den globalen Wertschöpfungsketten nach unten durchgereicht zu werden, insbesondere durch den Rückstand bei technologischen Innovationen.

Vor diesem Hintergrund ist laut Vöpel zu begrüßen, dass die neue Kommission der europäischen Wettbewerbsfähigkeit höchste politische Priorität einräumen will. Der Draghi-Bericht könne hierzu einen wichtigen Beitrag leisten. Eine neue Idee für eine wettbewerbsfähige Dekarbonisierung der europäischen Industrie liefere Draghi aber nicht. Die vorgeschlagene Lockerung der Wettbewerbspolitik und der Fusionskontrolle berge erhebliche Risiken für den europäischen Binnenmarkt. „Der Ansatz, größere Unternehmen durch vertikale Industriepolitik zu fördern, untergräbt langfristig die Resilienz der Wirtschaft und schafft Abhängigkeiten, die Europa in Krisenzeiten eher anfälliger machen,“ sagt Vöpel. „Anstatt von der bewährten ordnungspolitischen Auslegung des EU-Wettbewerbsrechts abzuweichen, sollte sich die Kommission darauf konzentrieren, die standortpolitischen Rahmenbedingungen für alle Unternehmen zu verbessern.“

Das cep kritisiert zudem die von Draghi vorgeschlagene Ausrichtung der Wirtschaftspolitik auf das Wachstum einzelner sogenannter strategischer Sektoren. „Wettbewerbsfähigkeit resultiert nicht aus dem politischen Schutz bestimmter Sektoren, sondern aus der Fähigkeit von Unternehmen, innovative und qualitativ hochwertige Güter mit hoher Produktivität zu produzieren. Der schnellste Weg aus der wirtschaftlichen Stagnation führt für die EU über die spürbare Verbesserung der Investitionsbedingungen. Dafür muss aber die Erwartung bestehen, dass die EU ein globaler Technologieführer der Zukunft sein wird“, erklärt Vöpel.